Samstag, 5. Juli 2014

04.07.2014
Jetzt geht es endlich los. Ja, ich weiß, dieser erste Rundbrief kommt unerwartet früh. Doch obwohl mein Freiwilligendienst in Indien offiziell erst im August (Abflug 02.08.) beginnt, kann man den Monat vorher getrost schon als ersten wichtigen Teil davon sehen.
Ich sitze während ich diesen Brief schreibe gerade im Fernbus von Köln zurück nach Hause. Es liegen zehn wahnsinnig spannende und ereignisreiche Vorbereitungsseminartage hinter mir. Da meine deutsche Entsendeorganisation InVia e.V. sehr klein ist, leitet sie nur fünf der angesetzten 13-15 Vorbereitungsseminartage selbst und gibt 10 davon an den Verein fid ab, der sich auf Freiwilligendienste im Ausland spezialisiert hat. 15 angehende weltwärts-Freiwillige verschiedenster Organisationen wurden daher bunt zusammengewürfelt und erhielten Workshops und Seminare zu diversen Themen mit dem Ziel, sich bestmöglich auf ihren Einsatz im jeweiligen Land vorzubereiten. Die Zielländer waren ähnlich vielfältig wie die Freiwilligen selbst: Etwa ein Drittel der Teilnehmer plant einen Einsatz in Chile. Sonst fand sich eine bunte Mischung aus Bolivien, Südafrika, Kenia, Uganda etc. Ich blieb mit meinem asiatischen Zielland allein auf weiter Flur. Da es jedoch eh nicht um länderspezifische Vorbereitung, sondern eher um allgemeine Kompetenzen ging, war das eh nicht besonders relevant.
Bei allen anderen Teilnehmern handelte es sich um größtenteils weibliche, frisch gebackene Abiturienten. Meine anfänglichen Bedenken bezüglich des Altersunterschieds (ca. 2/3 waren 1995/96er Jahrgang) lösten sich aber ganz schnell auf, als ich alle im Laufe der Zeit besser kennen lernte. Ich bin noch nie so vielen süddeutschen Dialekten auf einmal begegnet. („Beschde!“ J ) Wir hatten auch außerhalb der Seminare viel Spaß miteinander, spielten viel, redeten stundenlang (da ja auch alle in einer ähnlichen Situation sind), kletterten auf den Dom und saßen am Rhein.
Wir begannen die inhaltliche Arbeit damit Fragen, Wünsche, Gedanken aufzuschreiben, mit denen wir uns gerne im Rahmen des Seminars auseinandersetzen wollten. Parallel dazu brachten die beiden Teamer Angelika und Lukas ebenfalls Vorschläge ein und machten uns das Angebot zu bestimmten Themen Referenten einzuladen. Hieraus entwickelten wir gemeinsam, demokratisch einen Ablaufplan für die zehn Seminartage. Am ersten Tag trug unsere Seminareinheit den etwas esoterisch anmutenden Titel „Lebensfluss“. Es ging darum, zunächst für sich die eigene Lebensgeschichte  zu reflektieren und anschließend den anderen Gruppenmitgliedern vorzustellen. Idee davon war, dass es für einen solchen Dienst entscheidend ist, sich selbst gut zu kennen, da man dort in jedem Fall auf sich selbst zurückgeworfen wird und der eigene Erfahrungsschatz das „Reisegepäck“ ist, das man zur Unterstützung bei sich trägt. Die Geschichten der anderen zu hören war eine wahnsinnig intensive Erfahrung. Obwohl sich alle erst seit einem Tag kannten, begegneten sie sich mit einer unglaublichen Offenheit, die auch schmerzhafte und sehr bedrückende Erfahrungen nicht ausschloss. Auch wenn die „weltwärts“-Dienste teilweise in Verruf stehen nur eine privilegierte Zielgruppe zu bedienen (der mittelständische Abiturient, der ein Jahr zur beruflichen Orientierung braucht), habe ich hieraus gelernt, dass dies eine sehr oberflächliche Betrachtung ist. Auch hinter solchen vermeintlich leichten Lebensschicksalen kann viel Kampf verborgen sein und die Chance Abstand zu ihrem Umfeld zu bekommen und an einem Freiwilligendienst zu wachsen ist für diese meines Erachtens wichtig, geradezu notwendig. Gut, dass wir diese Aufgabe in zwei Gruppen bearbeiteten, denn um jedem Teilnehmer den nötigen Raum zu geben, saßen wir trotzdem bis abends um zehn zusammen, den Kopf um einiges schwerer.
Am nachfolgenden Tag begann unsere Einheit zum Thema „Interkulturelle Kommunikation“. Es ging um Konflikte, die in Situationen aufgrund unterschiedlicher kulturell bedingter Erwartungshaltungen zwischen Menschen entstehen können. Dies war sehr spannend. Ich habe völlig unerwartet mich selbst in diesem Seminar viel besser kennengelernt. Der Referent Maximilian Engl provozierte durch einige in das Seminar intergierte Praxisbeispiele für Kommunikationsfehler verschiedene Verhaltensmuster in den Teilnehmern. Als er das Seminar eröffnete, stellte er beispielsweise unsere Erwartungshaltung bezüglich der Situation „Vorstellung/ Seminareröffnung“ auf den Kopf, indem er so tat als kenne er die Selbstvorstellung eines Referenten nicht, sondern erwarte, dass man ihm stattdessen Fragen stelle. Da er dies jedoch nicht sagte, herrschte eine Weile sehr unangenehmes, angespanntes Schweigen und viele begannen zu kichern und unsichere Blicke auszutauschen. Bei mir führte es dazu, dass ich mit sehr forschem Auftreten versuchte, die Situation zu klären und von ihm klare Ansagen zu bekommen, was er jetzt von uns erwarte. Anhand solcher inszenierter Situationen Erfahrung über sich selbst zu sammeln, finde ich unfassbar spannend. J
Andere Seminareinheiten behandelten den Umgang mit Armut (mit dem Vergleich zwischen deutscher und weltweiter Armut), das Thema Sicherheit sowie Gesundheit und Ernährung. Dort  referierte der Tropenmediziner Dr. Burkard Rieke über Krankheiten, Impfungen und verantwortungsbewussten Umgang z.B. mit (Trink-)Wasser und Lebensmitteln. Hierbei musste ich feststellen, dass die Ärztin, bei der ich meine Reiseberatung gemacht hatte, einmal wieder einen wichtigen Teil meiner Schutzimpfungen vergessen hatte und  mir noch die Behandlung gegen „Japanische Enzephalitis“ fehlte. Da mich Dr. Rieke am nächsten Tag direkt impfen konnte, war dies gerade noch rechtzeitig vor Ausreise, da für einen sicheren Schutz eine zweite Impfung nach 28 Tagen erfolgen muss. Glück gehabt. J
Toll war, dass ich beim Abendbrot ein langes persönliches Gespräch mit Dr. Rieke führen konnte, der bereits acht Male für längere und kürzere Aufenthalte, privat und beruflich in Indien war und mir von seinen persönlichen Erfahrungen berichten konnte. Es hat mich sehr beruhigt, dass er sehr positiv, geradezu euphorisch über dieses Land berichtete. Er betonte die Freundlichkeit  und Offenheit der Inder und berichtete, dass das Thema Vergewaltigung von Frauen die meisten Inder eher mit Beschämung und Trauer erfüllte und dieses Thema für Indien nicht relevanter, als für andere Entwicklungsländer z.B. südamerikanische Staaten sei. Klar ist dieses Thema nicht zu unterschätzen, aber dass es bei einer Bevölkerungszahl von über einer Milliarde Menschen auch viele Gewaltakte zu berichten gibt und die Sensibilität der deutschen Medien im Zusammenhang mit Indien diesbezüglich geschärft ist, gilt es sich auch bewusst zu machen. Es gab mir etwas mehr Sicherheit, dass dieser Arzt zu mir sagte, ich müsse keine Sorge haben, mit meinem europäischen Selbstverständnis als Frau sofort sämtlichen Indern auf die Füße zu treten. J
Insgesamt war dieses erste Seminar großartig. Wir waren eine tolle Gemeinschaft, sodass der Abschied heute nicht ohne Tränen ablief. Es haben sich ganz viele Fragen geklärt und ganz viele neue aufgetan, sodass ich nun mit wachsender Neugier, Vorfreude und vorsichtiger, aber eindeutiger Euphorie in die Countdown-Phase der letzten vier Wochen in Deutschland gestartet bin.
Vom 21.-25.07. findet dann in Berlin das zweite Vorbereitungsseminar in Berlin statt, auf das ich jetzt schon sehr gespannt bin. Es gibt noch einiges zu organisieren, besorgen, zu durchdenken. Was ist z.B. die richtige Kleidung für starke Monsun-Regenfälle bei Temperaturen um die 30°C? Was stopfe ich für ein ganzes Jahr in meinen Reiserucksack ohne die 23kg Gewichtsbegrenzung der Fluggesellschaft zu sprengen und wie werden sich die Vorfreude- und Panikschübe im nächsten Monat abwechseln?

Ich werde berichten… J